die Seite 1905: „Fortschritt“

I. Die Landesausstellung Oldenburg 1905 und das Abessinierdorf.

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Man darf die weitreichende Bedeutung der Landesausstellung 1905, dieser „Leistungsschau“, für das Selbstbild und Selbstverständnis der Stadt Oldenburg zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht unterschätzen. Umso verstörender erscheint aus heutiger Perspektive die Existenz und das Konzept des sogenannten „Abessinier-“ oder „Somali-Dorfes“.
Gerade die Wahl der Bezeichnungen „Abessinien, Abessinier“ in Verbindung mit der Inszenierung des Dorfes im Rahmen der Ausstellung verrät einen besonderen Zynismus. Das Kaiserreich Abessinien war bis zu seiner Auflösung im Jahr 1974 der älteste existierende Staat der Welt (Gründung im 12. oder 13. Jahrhundert n.Chr.) und galt im Jahr 1905 als die einzige afrikanische Nation, die immer noch erfolgreich ihre Unabhängigkeit gegen die europäischen Kolonialmächte behauptete. Und gerade dieser besondere Staat und seine Menschen wurde nun in der Art und Weise auf der Landesausstellung präsentiert, wie es im Hörgang Dobbenviertel beschrieben wird …

Landesaustellung Oldenburg 1905, Plan des Ausstellungsgeländes (Quelle: Amtlicher Katalog 1905).

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Sogenannte „Völkerschauen“ oder „Menschenzoos“ waren im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine Seltenheit und oft große Erfolge beim Publikum. Noch heute stößt man auf irritierende Spuren aus dieser Zeit. So zum Beispiel im Tierpark Hagenbeck in Hamburg, dessen ehemaliger Haupteingang direkt neben verschiedenen Tierfiguren auch die Standbilder eines Somali und eines Sioux zeigt.

Zentrale Impulse für die Auseinandersetzung mit all diesen Themen im Hörgang Dobbenviertel kamen übrigens durch die Ausstellung „black dogs and red forests“, die vom 27.10.2022 bis 8.1.2023 im Edith-Russ-Haus für Medienkunst zu sehen gewesen ist.

II. Architektur und Raumordnung im Nationalsozialismus.

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Die Unterhaltung (oder vielmehr der Monolog) des Vermessungsingenieurs mit seinem Assitenten im Jahr 1940 im Hörgang Dobbenviertel enthält im Wesentlichen Bilder und Formulierungen, die  von Adolf Hitler und Albert Speer stammen. In diesen Szenen ist der Name des Assistenten („Tamms, verstehen Sie?„) nicht zufällig gewählt: Von 1938 bis 1945 gehörte Friedrich Tamms neben Rudolf Wolters und z.B. Konstanty Gutschow zu den maßgeblichen Architekten im Stab von Albert Speer.
Die Karrieren dieser Männer nach dem 2. Weltkrieg und ihr lange aktiv gepflegtes Netzwerk untereinander („Anholter Kreis“) verraten viel über die junge Bundesrepublik Deutschland, die Art und Weise eines „Neuanfangs“ und den Umgang mit der Vergangenheit in dieser Zeit.
Aber das öffnet die Tür zu einem anderen, sehr umfangreichen Themenkomplex, der in diesem Hörgang nicht behandelt werden konnte …

III. Experimente mit dem Hörspiel.

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Zentrales Anliegen der Hörgänge ist immer wieder das Experimentieren mit der Form des Hörspiels. So war zum Beispiel ein Ausgangspunkt für das gesamte Projekt die Fragestellung, wie ein Hörspiel sein kann, wenn es nicht an das Medium Radio gebunden ist, wenn es in seiner Form nicht durch Sendetermine, Programmplätze und den Prozess des „Sendens“ und „sich Versendens“ bestimmt wird. Jeder einzelne Hörgang lotet hier die Möglichkeiten neu aus.

Im Hörgang Dobbenviertel kommt nun eine neue, weitere Fragestellung hinzu: Kann ein Hörspiel sichtbare Teile enthalten und dabei trotzdem ganz eindeutig Hörspiel sein? Inwieweit kann man visuelle Elemente mit einem Hörspiel kombinieren, ohne seine charakteristische „Bühne“ zu verkleinern oder die ganz individuellen inneren Bilder der Hörerin und des Hörers zu beeinträchtigen? Können visuelle Elemente die Wirkung eines Hörspiels vielleicht sogar noch intensivieren?

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IV. Literatur und Quellen (eine Auswahl):

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… zur Landesausstellung Oldenburg 1905:

Amtlicher Katalog: „Allgemeine Landes-Industrie- und Gewerbe-Ausstellung verbunden mit einer Nordwestdeutschen Kunstausstellung und einer Ausstellung kunstgewerblicher Altertümer“, Verlag der Ausstellungskommission, Gerhard Stalling Verlag, Oldenburg 1905.

Elerd, Udo (Hrsg.): „Der Aufbruch Oldenburgs in die Moderne – Die Landesausstellung von 1905“, Veröffentlichungen des Stadtmuseums Oldenburg Band 48, Isensee Verlag, Oldenburg 2005.

Fansa, Mamoun (Hrsg.): „Das Somali-Dorf in Oldenburg 1905 – Eine vergessene Kolonialgeschichte?“, Begleitband einer Ausstellung des Landesmuseums für Natur und Mensch Oldenburg vom 26. Juni bis 28. August 2005, Isensee Verlag, Oldenburg 2005.

von Reeken, Dietmar: „Durchbruch der Moderne? Oldenburg 1880 – 1918″ in: Stadt Oldenburg (Hrsg.): „Geschichte der Stadt Oldenburg. Band 2. 1830 – 1995“, Seite 173-286, Isensee Verlag, Oldenburg 1996.

Blanchard, Pascal; Miller, Coralie; Victor-Pujebet, Bruno: „’Die Wilden‘ in den Menschenzoos“, ARTE-Dokumentation, 91 Minuten, Arte France 2018.

Boucheron, Patrick: „Geschichte schreiben: Der Tropenhelm. Gegen die Ängste des weißen Mannes.“, ARTE-Magazin, 18 Minuten, Arte France 2020.

… zu Architektur und Raumplanung im Nationalsozialismus:

Speer, Albert: „Erinnerungen“, Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2005.

Bracher, Karl Dietrich; Funke, Manfred; Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.): „Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft.“, Schriftenreihe Band 314, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1992.

… zu Quantencomputern:

https://de.wikipedia.org/wiki/Quantencomputer

https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/ibm-quantum-system-one-deutschlands-erster-quantencomputer-kostet-11-621-euro-monatsmiete

https://www.nzz.ch/wissenschaft/quantencomputer-quantenvorteil-bei-immer-komplexeren-aufgaben

Spiegel-Podcast „Quantencomputer für Dummies“:
https://www.spiegel.de/netzwelt/web/podcast-quantencomputer-fuer-dummies-a-a693b42a-2e94-44ea-a886-b70a9793143b

… zur Musik im Hörgang Dobbenviertel:

Folgende Stücke sind im Laufe des Hörganges zu hören:

Mathieu Lamontagne und Emmanuel Toledo (aka Eeem [eim]): „Territoires Inconnus“ von dem Album „Contemplation du Rien“ (2018).

Emmanuel Toledo (aka Eeem [eim]): „Meds (scan)“ von dem Album „Dans les Vall​é​es“ (2018).

Mathieu Lamontagne und Emmanuel Toledo (aka Eeem [eim]): „Parcelle“ von dem Album „Contemplation du Rien“ (2018).

Mathieu Lamontagne und Emmanuel Toledo (aka Eeem [eim]): „Au Bord Du Grand Néant“ von dem Album „Contemplation du Rien“ (2018).

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