die Seite 1938 und 1995: Begegnungen mit Horst Janssen

Dieser Text wird subjektiv. Es geht nicht anders. Denn eigentlich stellt sich bei der Überschrift hier oben doch sofort die Frage: Kann man bei Begegnungen mit Horst Janssen, bei den Begegnungen mit seinem ungeheuer vielfältigen Werk, mit seiner Biografie, seiner Gedankenwelt, den Texten, Gedichten (!), seinen Reden und auch mit seinen öffentlichen Auftritten, … (Luft holen!) … kann man bei diesen Begegnungen überhaupt in irgendeiner Weise objektiv sein?

Foto: Hans Eick

Denn im Grunde „begegnet“ man dem Künstler Horst Janssen und seinem Werk sehr oft nicht. Diese „Begegnungen“ sind eher Konfrontationen. Und bei diesen ist man sofort gezwungen, sich selbst zu verorten, Position zu beziehen.
Janssens Arbeiten sind zu einem großen Teil unmittelbar und ungefiltert er selbst, eine persönliche Begegnung. Viele seiner Zeichnungen zum Beispiel sind gleichzeitig auch Briefe, kleine Geschenke, Liebeserklärungen, Betrachtungen, auch Wutentladungen. Die Frage nach Objektivität im Gegenüber mit Janssen erscheint hier nach kurzer Überlegung eigentlich unsinnig.

Und: Begegnungen und Konfrontationen mit Janssen sind im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder eine Achterbahnfahrt – mit allen dazugehörigen Empfindungen.
Im Folgenden hier einmal in kurzen Notierungen die Begegnungen und Konfrontationen des Autors dieses Textes mit Horst Janssen und seinem Werk in den vergangenen drei Jahrzehnten:

Die erste, tief beeindruckende Begegnung im Studium: Janssens Landschaften (z.B. die Serie „Eiderland“ von 1985). Ungeheure Feinfühligkeit in kleinen Formaten. Das Wesen der jeweiligen Landschaft in den Drucken ungeheuer konzentriert. Immer wieder das Erdige, die dunkle Stille. Man sieht das kleine Bild und erinnert sich.

Dann die Geschichte einer Bekannten, die Anfang der 1990er Jahre bei der Eröffnung einer Janssen-Ausstellung im Publikum saß. Janssen war persönlich anwesend, saß vorne an einem Tisch. Es wurden viele Gruß- Und Dankesworte gesprochen, Reden gehalten. Und der Bekannten wurde die Zeit schnell etwas lang, so dass sie bald abwesend und tagträumend auf ihrem Stuhl hockte. Irgendwann dann endlich das Ende der Reden, die Eröffnung, die Leute erhoben sich. Und als die jungen Frau vorne an den Tisch tritt, um Janssen aus der Nähe zu sehen, macht dieser plötzlich einen Schritt auf sie zu und überreicht ihr einen Programmzettel mit einer kleinen Zeichnung. Mit schnellen und gleichzeitig sehr präzisen Strichen festgehalten erkennt sie sich selbst, tagträumend auf dem Stuhl hockend, darunter in Janssens unverkennbarer Handschrift die Worte „Bist Du jetzt zufrieden?“.
Es ist ein Moment, ganz gefüllt mit jeder Menge typischem Janssen: Witzig, großzügig, Geschenke machend und seine Umgebung und besonders die Menschen um ihn herum schnell und sehr präzise erfassend.

Im Kontrast dazu später immer wieder die Geschichten von einem unberechenbaren, einem abstoßenden Menschen, dem so oft betrunkenen und gewalttätigen Janssen, dem Getriebenen, dem verwahrlosten Kettenraucher, der die Menschen in seiner Umgebung regelmäßig beschimpft, erniedrigt, anbrüllt, schlägt. Die Ahnung einer ungeheuren Haltlosigkeit in Janssen.
Über die Jahre auch die wiederkehrenden Eindrücke des öffentlichen Janssen, bei dem das Publikum ständig darauf „hofft“ und „wartet“, dass er vielleicht betrunken erscheint, ausfallend wird, explodiert.

Es folgen erneut tief beeindruckende Begegnungen: Die unglaubliche Bandbreite seiner kreativen Techniken, die anscheinende Mühelosigkeit, mit der er diese einsetzt. Janssens absolut faszinierende Sicherheit, wenn er strichelt (z.B. „Tantchen“ von 1962 oder „Suff“ von 1964), ätzt, aquarelliert (z.B. „An Henri Nannen“ von 1988), unendlich fein punktiert (z.B. „Selbst dramatisch“ aus dem Jahr 1965). Arbeiten, die zunächst viele zufällige Prozesse im Bild zu zeigen scheinen und bei denen man im zweiten Blick dann bemerkt, wie gezielt und virtuos Janssen diese „Zufälle“ einsetzt und lenkt.

Zuletzt in der Recherche zu den beiden Hörgängen die Filmaufnahmen von Janssen in verschiedenen Dokumentationen. Horst Janssen in bewegten Bildern: in einem Restaurant, umgeben von Freunden und Bekannten, Bewunderern, wahrscheinlich nach einer Ausstellungseröffnung, betrunken, mit farbverschmierten Händen, die ganze Zeit rauchend und auf jede mögliche Fläche kritzelnd und zeichnend, die sich ihm bietet. Dann Janssen, dozierend, in seinem chaotischen und vollgestopften Atelier, seiner „Burg“. In wieder anderen Bildern: Janssen nach einer Lesung, geduldig Bücher mit schnell und sicher gezeichneten Selbstporträts signierend. Er, umgeben von ihn bewundernden Menschen und gerade deshalb besonders für sich, herausgehoben, einsam wirkend.
Der sich beim Betrachten der Aufnahmen gleichzeitig immer klarer formende Eindruck der tief sitzenden Unsicherheit von Janssen vor der Welt.

Und letztendlich als Eindruck auch die zahlreichen Fragen, die sich einem immer drängender stellen, je länger man mit Janssen konfrontiert ist:
Ist Janssen ein „begnadeter Künstler“, ein „Genie“, einer DER bedeutenden deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts?
Kann man Janssen bewundern?
Kann man ihn verurteilen, ablehnen?
Wird Janssen, wird seine Kunst jede Zeit überstehen und bleiben?

Und immer häufiger auf all diese Fragen, immer wieder mit direktem Bezug auf den ganzen Janssen diese eine, immer gleiche, nachdenkliche, stockend und mit Pausen gesprochene Antwort, bestehend aus drei Wörtern: „Ja. Nein … schwierig.“

Christian Gude, September 2025.

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I. Literatur und Quellen (eine Auswahl):

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Literatur und Texte von Horst Janssen:
(Die Texte und Zitate von Horst Janssen, die in den beiden Hörgängen zu hören sind, stammen aus den hier unten aufgeführten Büchern.)

Janssen, Horst: „HINKEPOTT – Autobiografische Hüpferei in Briefen und Aufsätzen“, Band I, MERLIN VERLAG Andreas Meyer Verlags GmbH & Co KG, Gifkendorf, 1987.

Janssen, Horst: „Querbeet – Aufsätze, Reden, Traktate, Pamphlete, Kurzgeschichten, Gedichte und Anzüglichkeiten“, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co KG, München, 1982.

Janssen, Horst: „An und für mich – Selbstisches, Briefliches, Poetisches, Hämisches, Deklamatorisches, Gesprochenes und alles Gedruckte 1981-1986″, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co KG, München, 1986.

Janssen, Horst und Tietjens, Gesche (Hrsg.): „Summa summarum – Ein Lebenslesebuch“, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 2006.

Literatur und Texte über Horst Janssen:

Albrecht, Henning: „Horst Janssen – Ein Leben“, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 2016.

Ausstellungskataloge zum künstlerischen Werk von Horst Janssen:

Veröffentlichungen des Horst-Janssen-Museums Oldenburg, Band 1: „Ich sehe mich in allem anderen – Metamorphosen im Werk Horst Janssens“, Isensee Verlag, Oldenburg, 2000.

Veröffentlichungen des Horst-Janssen-Museums Oldenburg, Band 4: „Janssen und die Frauen – ‚Die entzückenden Wesen, die meinen Lebensstremel eingeteilt haben'“, Isensee Verlag, Oldenburg, 2002.

Veröffentlichungen des Horst-Janssen-Museums Oldenburg, Band 6: „Horst Janssen – Die Kunst der Zeichnung'“, Isensee Verlag, Oldenburg, 2003.

Veröffentlichungen des Horst-Janssen-Museums Oldenburg, Band 14: „Mich haben die Götter ungemein gestraft mit meinen Gaben – Horst Janssen. Die Retrospektive zum 80. Geburtstag“, Isensee Verlag, Oldenburg, 2009.

Veröffentlichungen des Horst-Janssen-Museums Oldenburg, Band 22: „Ein altes Herz kaspert für Annette – Zeichnungen und Briefe von Horst Janssen an Annette Kasper“, Isensee Verlag, Oldenburg, 2013.

Stadtmuseum Oldenburg, Gäßler, Ewald (Hrsg.): „Horst Janssen – Radierzyklen“, Verlag St. Gertrude, Hamburg, Verlag Manfred Meins, Oldenburg, 1995.

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II. Die Musik in den Hörgängen Sonnenstraße / Lerchenstraße und Heiligengeisttor:

Folgende Stücke sind im Laufe der beiden Hörgange zu hören:

Emmanuel Toledo (aka Eeem [eim]): „Ailleurs sous la Voie lactée (commémorations)“ von dem Album „Silver Rivers“ (2024).

Emmanuel Toledo (aka Eeem [eim]): „Escape Orbit“ von dem Album „Booktracks 3rd Edition“ (2024).

Emmanuel Toledo (aka Eeem [eim]): „Hatches“ von dem Album „Booktracks 3rd Edition“ (2024).

Emmanuel Toledo (aka Eeem [eim]): „Subatomic Wind“ von dem Album „Booktracks 3rd Edition“ (2024).

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